Ein Capriccio
Dass (nicht nur) Europa gegenwärtig von identitäre „Politiken“ überschwemmt wird, ist kein Geheimnis. Aber ganz offensichtlich ist dieses Wissen noch mit keinerlei Bewusstsein verbunden. Das ist aber eigentlich erstaunlich, denn kaum eine politische Linie läuft auf derartig tiefgreifende und unumgängliche Widersprüche hinaus, wie die identitären Programme, die sich tatsächlich selbst als „politisch“ einstufen würden. Zur Verdeutlichung dieser Absurdität will ich im Folgenden zwei Phänomene deutscher Innenpolitik der jüngeren Vergangenheit überprüfen.
Vor knapp drei Monaten äußerte der gerade frischgebackene Bundesinnenminister Horst Seehofer gegenüber der (reißerischen) Bild-Zeitung folgenden Satz: „Der Islam gehört nicht zu Deutschland. Deutschland ist durch das Christentum geprägt.“[1] Im ersten Satz finden wir das erste Beispiel für eine bestimmte Form des Identitären, nämlich die Benennung „der Anderen“, „der Fremden“, „der Feinde“. Der zweite Satz des Zitats deutet eine weitere Form des Identitären an, nämlich die (nach der im ersten Schritt durchgeführten Abgrenzung zu den Anderen vorgenommene) Amalgamierung der vermeintlichen eigenen „Identität“. Ein anderer deutscher Politiker, Markus Söder, hat diesen zweiten Schritt zusammen mit seinem Kabinett im Bundesland Bayern vor Kurzem auf die Spitze getrieben. So verabschiedete das Kabinett Söder den so genannten „Kreuz Erlass“, der seit Freitag, dem 1. Juni 2018, gilt und vorschreibt, dass in bayerischen Landesbehörden ein Kruzifix sichtbar im Eingangsbereich anzubringen ist.[2] Die Begründung? Das Kreuz sei, so Söder, ein „Bekenntnis zur Identität“ und zur „kulturellen Prägung“ Bayerns.[3]
Ich möchte im Folgenden nicht auf die konstruktive Kritik eingehen, die von Seiten der katholischen Kirche, namentlich durch Kardinal Reinhard Marx, geäußert wurde;[4] stattdessen möchte ich auf die (schon vor diesen agitatorischen Kuriositäten nicht nur) von dezidiert linken Politikern genutzte Phrase „Der Islam gehört zu Deutschland“ hinweisen. Gegen Seehofers und Söders identitäre Programme wird schlicht mit der Gegenbehauptung vorgegangen und Wahlkampf u. dgl. betrieben. Das Problem: Auch die positive Aussage wird von derselben Logik geleitet, wie die negative Formulierung. Wodurch sich nun Folgendes festhalten lässt:
„Der Islam gehört nicht zu Deutschland.“ – falsch!
„Der Islam gehört zu Deutschland.“ – auch falsch!
Beide Aussagen sind ungenau, unzutreffend und gänzlich falsch formuliert. Um es überdeutlich zu machen, könnte man ebenso gut nämlich sagen:
„Das Christentum gehört nicht zu Deutschland.“ – falsch!
„Das Christentum gehört zu Deutschland.“ – auch falsch!
Wie die beiden Aussagen über „den“ Islam sind auch die beiden letzteren unhaltbar, denn auch sie basieren auf einer latenten identitären Logik. So handelt es sich bei der jeweils ersten Aussage um einen identitären Inklusivismus, während mit der jeweils zweiten Aussage ein identitärer Exklusivismus impliziert wird. Es hat schlichtweg keinen Zweck ein historisch gewachsenes Phänomen wie eine Religion oder einen Nationalstaat plötzlich in einen metaphysischen, präexistenten Status erheben zu wollen. Noch diffuser wird die Angelegenheit, wenn man sogar zwei völlig unterschiedliche historische Kontingenzerscheinungen (Religion und Staat) miteinander zusammenwirft und vermeint, damit eine klare und deutliche Aussage gemacht zu haben.
Was ist denn überhaupt „Deutschland“? So mancher scheint sich ja ziemlich sicher zu sein, worum es sich bei diesem metaphysisch-praestabilierten Land handele, das noch vor der Zeit geschaffen, von Gott höchstselbst entworfen, gewiegt und erhalten, bis zur Apokalypse Bestand haben werde. Ironie beiseite, es gibt nicht „das“ Deutschland! Dass dasselbe auch für eine Religion gilt, braucht doch im 21. Jahrhundert eigentlich nicht mehr groß erklärt werden, oder? Wer also schon mit solch diffusen und verblendeten Paradigmen beginnt, kann unmöglich gute Politik machen. Aber diese Leute annektieren gegenwärtig das, was man kaum noch als politische Landschaft bezeichnen kann. Die Verflachung des politischen Diskurses durch die simplifizierende Logik der Identitären verwandelt die politische Landschaft zusehends in eine identitäre Monokultur.
Stattdessen brauchen wir ein Paradigma, dass den Diskurs, den Austausch und das Verstehen zulässt und sogar zu fördern vermag. So gäbe es zum Beispiel die Möglichkeit, die verklärten Sätze der Identitären, einmal in eine nüchterne und nicht-affizierende Sprachform zu bringen: „In einem geographischen Gebiet, von dem einige Menschen sich aufgrund historischer Prozesse angewöhnt haben, es als ‚Deutschland‘ zu bezeichnen, leben Menschen mit unterschiedlichen Vorstellungen, Überzeugungen und Bewusstsein zusammen.“ Zusammenleben heißt zunächst einmal, dass man miteinander auskommen muss. Quasi wie in einer Familie, in der man in der Regel auch nicht jeden mag, manche vielleicht sogar verabscheut, manche vielleicht sogar gar nicht kennt, aber doch irgendwie miteinander auskommen muss. Aber dies ist nur der Anfang. Denn diese Diskursstätte, die das Paradigma schafft, deutet auf das Gemeinsame – nicht im Sinne eines (wieder identitären) Vergleichs von Gemeinsamkeiten! –, das ein universales Wir impliziert. Und dieses universale Wir verlangt die Suspension des Ressentiments. Wir können miteinander reden. Wir können wirklich politisch sein.[5]
[1] https://www.bild.de/bild-plus/politik/inland/islam/heimat-minister-seehofer-islam-gehoert-nicht-zu-deutschland-55108896,view=conversionToLogin.bild.html (Zugriff: 7. Juli 2018)
[2] http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/soeder-erlass-in-kraft-es-ist-ein-kreuz-15617604.html (Zugriff: 7. Juni 2018)
[3] http://www.sueddeutsche.de/bayern/bayern-csu-beschliesst-aufhaengen-von-kreuzen-in-behoerden-1.3956892 (Zugriff: 7. Juni 2018)
[4] Vgl. dazu http://www.sueddeutsche.de/bayern/kreuz-erlass-kardinal-marx-wirft-soeder-spaltung-vor-1.3962223 (Zugriff: 7. Juni 2018)
[5] Der Gedanke dieses letzten Abschnitts ist inspiriert von Alain Badious Vorschlag, das Paradigma „Es gibt eine Welt“ zu implementieren, das in der Tat noch einmal mehr die universalistische Herangehensweise verdeutlicht. Vgl. dazu A. Badiou, Wofür steht der Name Sarkozy?, übers. v. H. Jatho, Zürich 2008, Kap. IV.
[Zuerst erschienen in Settimana 23, 6/2018.]