In der Einleitung zum Sammelband „Zwischen Naturalismus und Religion“ schreibt Jürgen Habermas, „[r]eligiöse Überlieferungen leisten bis heute die Artikulation eines Bewusstseins von dem, was fehlt“[1]. Damit ist gemeint, dass das Denken unterschiedlicher religiöser Traditionen in ihren diversen Formen virtuelle Potenziale enthält, die als konstruktive Entwürfe beim Aushandeln realiter bestehender (d.h. politischer, ethisch-moralischer, sozialer) Diskurse wirken können. Ein prominentes Beispiel für ein solches Potenzial bietet die Dynamik zwischen dem schöpfungstheologischen Gedanken einer göttlichen creatio auf der einen und einer naturalistischen Weltdeutung auf der anderen Seite. Hier wirkt (im Idealfall) nicht die zweckrationale Vorstellung einer methodologischen Vereinheitlichung unterschiedlicher Wissenschaftsbereiche unter der Diktatur eines metanarrativen Prinzips, sondern die Dynamik zweier inkommensurabler Deutungsmodi im Hinblick auf Herausforderungen und Fragen, die die wirkliche, von Menschen bewohnte Welt dem menschlichen Denken aufgibt. Dieser Sachverhalt betrifft daher Wissenschaften generell. Wie ist es nun im Speziellen um die Theologie bestellt? Wodurch zeichnet sie sich als moderne (Geistes)Wissenschaft aus (1) und welche Perspektiven von „dem, was fehlt“ kann sie den öffentlichen Diskursen verschaffen (2)?
(1) Denkt man Habermas’ verallgemeinernde Vorstellung von virtuellen Potenzialen weiter, so ergibt sich rasch der relativierende Einwand, dass es sich hierbei keinesfalls um ein Alleinstellungsmerkmal religiös-theologischer Diskurse handelt. Solche Potenziale müssen, um im öffentlichen Diskurs zur Aushandlung bestehender Fragen beitragen zu können, kommunizierbar sein.[2] Dies hat zur Folge, dass die Dimension des persönlichen Glaubens sich hier unterordnen muss, da sie schlicht und ergreifend nicht übertragbar ist. Das Repertoire der religiösen Diskurse stellt sich daher wie folgt dar: Einerseits bieten sie einen umfangreichen Fundus an Geschichten, Narrativen, Bildern, Ritualen, Traditionen und Phänomenen, die andererseits auf einer Glaubensdimension ruhen, wodurch jenen tatsächlich eine Art Sonderstatus akkreditiert (lat. accredere, Glauben schenken) wird, die als ‚Glaube’ selbst allerdings inkommensurabel bleibt, und damit ein Phänomen unter Phänomenen. Auf Geschichten, Bilder und dergleichen aber können Kulturen (bzw. Gesellschaften mit Blick auf ihre/n kulturelle/n Horizont/e) generell zurückgreifen: Hier sind besonders Literatur und Kunst hervorzuheben, die neben einem historisch-redigierten Katalog auch aktivisches, zeitgenössisches Potenzial bereitstellen. Keine Spur also von einer Sonderstellung der religiösen Sphäre.
An dieser Stelle aber zeigt sich nun das Potenzial der Theologie als der Wissenschaft vom Inkommensurablen, wie ich es nennen möchte. Was das genau heißt, spiegelt sich im methodologischen (Selbst)Verständnis der Theologie wider: Die wissenschaftliche Arbeit (logia) an dem, was durch den Begriff Gott (theos) angezeigt wird, muss sich selbst zur Obacht ermahnen. Mit der Frage nach dem Begriff Gott nämlich setzt sich die Theologie paradigmatisch der größten Schwierigkeit ihres geisteswissenschaftlichen Metiers aus, und zwar der Inkommensurabilität. Diese tritt hier allerdings nicht wie beim Glauben als akzidentelles Moment sozialer Interaktion auf, sondern als konstitutives Moment der Wissenschaft selbst. Die christliche Theologie spiegelt das überdeutlich wieder: Die theo-logia steht vor der Herausforderung des a-logon des Christentums. Dieses alogon ist zum einen durch den monotheistischen Gott gegeben, der unsagbar (ineffabel) und undarstellbar (sogar ikonoklastisch) ist; zum anderen durch den paradoxen Gedanken der Inkarnation, die im Rahmen der ältesten (überlieferten) theologischen Auslegung, nämlich der des Paulus, die Gestalt der kenosis, d.h. als Entleerung oder gar Entgottung Gottes, annimmt. Während die biblische Mythen und Geschichten diese Art Inkommensurabilität auszuhalten imstande sind, muss die Theologie an dieser Stelle auf einen logos zurückgreifen, um das Undenkbare begreifbar zu machen. Bei den altkirchlichen Versuchen, Trinität und Christologie zugleich zu erfinden und logisch sowie dogmatisch zu konsolidieren, geriet das Inkommensurable so zwar zunächst aus dem Blickfeld der theologischen Vernunft,[3] dafür aber integrierte sie eine philosophische Rationalität, wodurch sie sich eine Sprache aneignete, die sie zu vernünftiger Argumentation befähigt.
Die Theologie zeigt sich also doppelgesichtig: Als (Geistes)Wissenschaft ist ihr method(olog)ische Transparenz, Kohärenz und Konsistenz aufgegeben. Gleichzeitig aber fußt ihr Potenzial in dem mythisch-narrativen Fundus dessen, was man umfassend mit den Begriffen des Abrahamitischen und Antiken bezeichnen kann. Dies ist allerdings auch wieder ein spezieller Fall eines generellen Schemas: Hinter jeder wissenschaftlichen Methode steckt eine Geschichte (oder ein Komplex von Narrativen), die ihr Sinn verleiht, und ohne den es sie gar nicht gäbe.[4] Das theologische Denken aber bringt dieses wissenschaftlich-diskursive Phänomen wesentlich deutlicher ans Tageslicht, als es beispielsweise die um Objektivität bemühten Einzelwissenschaften tun. Auch wenn dieses Bewusstsein zunächst unter dem Aspekt der Anfechtung durch die Rationalität des aufklärerischen Geistes hervortritt, nimmt sich die moderne Theologie ihrer paradoxalen Verfassung an bzw. öffnet sich ihr regelrecht. Die theologische Gedankenwelt der Aufklärung beispielsweise macht dies überdeutlich: Anstatt mit Ablehnung und Reaktionismus zu antworten, wird die theologische Vernunft zum Katalysator einer dynamischen und selbstkritischen Vernunft. (Schleiermacher, Schelling, Hölderlin und Kierkegaard stehen hier Pate.) Die Unverfügbarkeit des ‚zureichenden Grundes’ wird zur Schnittstelle theologischer und philosophischer Denkarbeit und entfaltet damit das kritisch-revisionistisches Potenzial der aufklärerischen Theologie; denn diese bildet zugleich auch einen Achsenpunkt, über den vermittelt religiöse Befunde und Narrative Aufnahme in die vernunftgeleiteten Diskurse der Moderne finden können. Damit stellt die Integration des Inkommensurablen den formalen Wert der Theologie für öffentliche Diskurse aus.
(2) Dieses Argument bereitet auch Habermas vor, wenn er den öffentlichen Diskurs als einen „komplementären Lernprozess“ des „öffentlichen Bewusstseins“ begreift, das „phasenverschoben religiöse wie weltliche Mentalitäten erfasst“.[5] Dabei soll folglich auch das Inkommensurable und das authentische Religiöse zu seinem Recht auf Anhörung kommen.[6] Unter formalen Aspekten der „idealen Sprechsituation“, die Habermas vorschweben, ist dies leicht gesagt – aber wie lässt es sich umsetzen? Als Wissenschaft vom Inkommensurablenkann die Theologie dabei eine Rolle sowohl auf formaler (a) als auch auf inhaltlicher Ebene (b) einnehmen.
(a) Die Theologie, die von der ersten Stunde an auch den vernünftig-argumentativen Sprachduktus pflegen musste (vom gesellschaftlichen Diskurs der Paulusbriefe bis zum philosophischen der Apologetik), kann und muss auch im postsäkularen Zeitalter argumentative Offenheit und Aufgeschlossenheit beweisen. Wie oben bereits angedeutet, ist gerade die (nach)aufklärerische Theologie ein Beispiel für intragenerische Selbstkritik einer Einzelwissenschaft. Ihre Unterteilung in Fachbereiche sichert dabei einerseits den empirischen Anspruch moderner Wissenschaftlichkeit (historisch-kritische Arbeit an Text und Phänomen), andererseits aber auch eine hermeneutische Selbstkritik der eigenen Tradition (Systematische Theologie/Fundamentaltheologie).[7] Gerade Letztere lässt die theologische Arbeit unter formalen Gesichtspunkten als Beispiel moderner Diskursivität hervortreten: Hinsichtlich des konstruktiven Umgangs mit persönlichen Narrativen und subjektiven Perspektiven im Kontext wissenschaftlicher Arbeit ist sie ebenso leistungsstark wie die philosophische Hermeneutik – beide unterscheiden sich lediglich unter dem Gesichtspunkt des Spektrums ihrer historisch-narrativen Hintergrundstrahlung. Die Theologie tritt hier mit der paradigmatischen Forderung nach intra- und interdisziplinärer Erörterung und Aushandlung auf.
(b) Wenn sämtliche Einzelwissenschaften vor dem Horizont ihrer jeweiligen Geschichte(n) agieren, so sticht das theologische Denken (und zwar nicht nur das christliche) dadurch heraus, als dass es neben diesen impliziten Narrativen zudem auf einen expliziten und konkreten mythisch-literarischen Textkorpus zurückgreift, nämlich den des Alten und Neuen Testaments, der zudem als kanonisch und heilig gilt. Die begründende und strukturierende Funktion dieser mythischen Geschichten, wie sie etwa in der Sphäre des religiösen Lebens auftritt, ist nun zweifellos auch ein Impetus des theologischen Denkens. Entsprechend ihrer methodischen Selbstkritik aber, kann die Theologie es sich an dieser Stelle allerdings nicht einfach machen und in (fundamentalistische) Letztbegründung abdriften. Im Gegenteil, vielmehr bewegt sie sich auf der Schnittstelle von Diachronem und Synchronem, von symbolischer Ordnung und wissenschaftlicher Reorganisation, kurz, von Mythos und Logos.
Damit kann ihr weder aufgegeben sein, ihre Argumente oder ihre Methode ein für allemal zu fixieren, noch, sich einem uneingeschränkten, selbstreferenziellen Fortschritts- und Entwicklungsdenken hinzugeben. Stattdessen liegt ihre Kompetenz in der Fähigkeit, konkrete Entscheidungen zu fällen, sich zu positionieren und normative Urteile zu bilden, dabei diskursive Offenheit und wissenschaftliche Integrität zu bewahren, sich zu integrieren und der virulenten Themen der Gesellschaft anzunehmen. Ganz im Gegensatz zu ideologischem/fundamentalistischem Denken, dem es um die endgültige Auflösung diskursiver Opposition und gesellschaftlicher Unklarheiten unter dem Deckmantel eines illusorischen Weltbildes geht, agiert die Theologie ideologiekritisch, indem sie vehement auf den Faktor des ungreifbaren Vorausgesetzen verweist, auf den sie ja angewiesen ist. Mit Blick auf den öffentlichen Diskurs bedeutet dies, dass die Theologie hinsichtlich ihres narrativen Fundaments einerseits mit offenen Karten spielt und dadurch andererseits den zunächst suspekten Faktor, den das Inkommensurable bildet, handhabbar und für den Diskurs fruchtbar macht. Damit wird das Element, das sie zunächst weltfremd erscheinen lässt, zu einem integralen Faktor für ihre Hinwendung zur gesellschaftlichen Lebenswelt, die sie weder abschreibt noch verklärt.
Dass diese Art des theologischen Vernunftgebrauchs im Grunde ihrer Geschichten bereits angelegt ist, zeigt sich, wenn man das AT und NT als einen (quasi psychoanalytischen) sekundären Mythos liest: Denn die biblischen Mythen erzählen auch die Geschichte der (Selbst)Evaluation Gottes. Die Schöpfung aus dem Nichts, die Erschaffung der Frau, der Bund, der neue Bund, die Menschwerdung, der Tod am Kreuz, die Auferstehung, die Himmelfahrt, die Verheißung – der Mythos selbst macht vor: Mit den bestehenden Ordnungen der Welt kann zwar gebrochen werden, diese Welt muss dabei aber nicht verneint werden.[8] Die göttliche Vernunft ist nicht absolut, sie ist bereit zur Aushandlung und zum Umdenken (metanoia). „Der Mythos selbst ist ein Stück hochkarätiger Arbeit am Logos.“[9] Der mythische Gehalt der Theologie mag Träger des Inkommensurablen sein, aber dadurch bildet er den poetisch vermittelten Zugang zu einer Dimension der Vernunft, die sich jenseits formaler Diskursreglements immer schon in einer Ordnung (kosmos) wiederfindet und sie zur konkreten Aktion und Teilnahme befähigt. Die offengelegte Verschmelzung von Mythos und Logos macht den Wert des theologischen Beitrags zum öffentlichen Diskurs aus.
[1] J. Habermas, Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt/M. 2005, 13.
[2] Vgl. J. Habermas, „Glauben und Wissen. Friedenspreisrede 2001“, in: ders., Zeitdiagnosen. Zwölf Essays, Frankfurt/M. 2003, 249-262.
[3] Vgl. exemplarisch die Auflistung theologischer Aporien in K. Flasch, Warum ich kein Christ bin. Bericht und Argumentation, München 2013, 257ff.; oder auch Ch. Hartshorne, Omnipotence and Other Theological Mistakes, Albany 1984.
[4] Dies zeigt z.B. Robert Musil: „Aus reiner Induktion, bloß aus den Tatsachen heraus, läßt sich nicht einmal in den rein rationalen Naturwissenschaften eine Theorie erbaun; niemals wird aus den Einzelfällen das allgemeine, regelnde Gesetz gefunden ohne Hilfe eines in entgegengesetzter Richtung verlaufenden Gedankens, der anfangs immer ein Akt des Glaubens, der Phantasie, der Annahme einschließt[.]“ (R. Musil, Gesammelte Werke, Bd. 8, Essays und Reden, hg. v. Adolf Frisé. Hamburg 1978, 1379f.) Positiv formuliert den Gedanken George Steiner: „Alles begann mit Dichtung und hat sich nie sehr weit davon entfernt.“ (Gedanken dichten, Frankfurt/M. 2011, 38).
[5] Vgl. Habermas (2005), 116.
[6] Ebd. 136.
[7] Vgl. H. Rosenau, „Vom Sinn des Systematischen in der Theologie“, in: P. David (Hg.), Theologie in der Öffentlichkeit. Beiträge der Kieler Theologischen Hochschultage aus den Jahren 1997 bis 2006, Hamburg 2007, 161-176, 162.170.
[8] Vgl. dazu z.B. S. Žižek, Das fragile Absolute. Warum es sich lohnt, das christliche Erbe zu verteidigen, übers. von N.G. Schneider, Berlin 2000, 124-138.
[9] H. Blumenberg, Arbeit am Mythos, 5. Aufl., Frankfurt/M. 2017, 18. Zu erinnern wäre hier auch an M. Franks Befund, dass die Kritische Theorie unter dem Aspekt des Mythologischen auch als Ästhetische Theorie wirken konnte bzw. kann (vgl. Der kommende Gott. Vorlesungen über die Neue Mythologie, Frankfurt/M. 1982, 221).
[Zuerst erschienen in Settimana 12, 3/2018.]