Dialektisch-materialistische Weihnachtsgrüße
1818 – 1918 – 2018
Hinsichtlich bedeutender Jubilare scheint das Jahr 2018 durchaus unter dem Zeichen des dialektischen Materialismus zu stehen, jener linkshegelianischen Denkbewegung die auf Karl Marx und Friedrich Engels zurückgeht. Beim Erstgenannten handelt es sich auch gleich um einen der besagten Jubilare, denn Marx wäre – bekanntermaßen – dieses Jahr zweihundert Jahre alt geworden. Das zweite Jubiläum bezieht sich hingegen weniger auf die Person selbst denn auf ihr Erstlingswerk, das im Jahre 1918 erschien. Die Rede ist von Ernst Blochs neomarxistischem Klassiker „Geist der Utopie“ (und wenn man wollte, könnte man hier auch noch sein „Atheismus im Christentum“ von 1968 einreihen).
Da sich das (Fiskal)Jahr nun langsam seinem Ende zuneigt, zudem – wie immer plötzlich – Weihnachten vor der Tür steht, wird es nun höchste Zeit, einmal darüber nachzudenken, was es mit dieser historisch zufälligen Assoziation auf sich hat. Denn wann, wenn nicht in der Vorweihnachtszeit, scheint eine kleine, marxistisch angehauchte Meditation sonst angebracht? Wann, wenn nicht in jener Zeit des Jahres, in der sich der westliche Mensch in seiner neuen selbstverschuldeten Unmündigkeit (aber trotzdem ganz ‚freiwillig‘ – „Nudge“ und „libertärem Paternalismus“ sei Dank) herdenweise durch Kaufhäuser und Supermärkte treiben lässt? Wann, wenn nicht in jener besinnlichen Stunde, in der dieser Mensch sich endlich einmal guten Gewissens darüber beschweren kann, so viel essen zu müssen?
Ägypten – Biedermeier – Apple
Im ersten Abschnitt von „Geist der Utopie“, der bezeichnenderweise mit „Die Selbstbegegnung“ betitelt ist, bietet Ernst Bloch eine visionäre Deutung der modernen Warenästhetik an. Die Warenproduktion steht ganz unter dem Stern einer kalten Maschinenästhetik, deren „eigentliches Ziel … das Badezimmer und Klosett, die fraglosesten und originalsten Leistungen dieser Zeit,“ ist.[1] „Hier regiert die Abwaschbarkeit […]“, konstatiert Bloch. Nichts Besonderes, nichts Ornamentales, nichts Lebendiges ist noch erlaubt, in einer Welt, die auf reibungslose Abläufe, ökonomische Effizienz und funktionale Wohnmaschinerien setzt. Diese Ästhetik, „[a]uch dort, wo man nur entlasten will, wo Glas, Stahl und Beton zusammenwirken und derart die reine Zweckform […] ihr nüchternes Wesen treibt“, drängt uns seine „ägyptische Reminiszenz“ auf.[2] Was Bloch damit meint, ist jener „absolute Steingeist“, den das alte Ägypten der Pharaonen (jener Gottmenschen, die gerade in Form der steinernen Statue ihre Macht repräsentierten) bis zur megalomanen Perfektion brachte, um die „totale Herrschaft der anorganischen Natur über das Leben“ darzustellen.[3] „[D]ie Pyramide ist, wie Hegel sagt, ein Schrein, darin ein Toter haust, das Allerheiligste des tiefen Tempelraums ist nicht anders als ein Grab […]“.[4]
Hingegen Blochs ornamentale, fast schon überquellende Wortgewalt bringt die Ideologie hinter diesem „ungeheuren Fanatismus der Starre“ hervor: Die vermeintliche Erhabenheit der glatten Oberflächen ist nichts weiter als ein moderner Fetischismus. Die glatte Oberfläche ist nur das Klosett, eine Toilette, die die offensichtlichen Exkremente der Ideologie (Marx spricht von der „ökonomischen Scheiße“) schnellstmöglich und ohne Rückstände wegbefördert.[5] Die Hoffnung ist, dass der Dreck, den die Ermöglichung der westlichen ‚Zivilisiertheit‘ produziert, einfach an diesen Oberflächen abperlt. So war bereits die Ästhetik des Biedermeier im 19. Jahrhundert, die Bloch hier einreiht, nichts anderes als der Fetisch der Reinheit, der die dreckige Realität der Produktion und Ausbeutung in den Fabriken, kurz die soziale Frage, für das Bürgertum erträglich machte. Man kann diese Reihe fortsetzen mit Le Corbusier, dessen Idealentwurf einer Stadt von Michel Houellebecq als Konzentrationslager bezeichnet wird.
Ihre jüngste Iteration bildet wohl Apple oder eigentlich jeder Produzent von Smartphones, Tablets und Notebooks. Die Glattheit der Oberfläche hat hier ein geradezu hypertrophes Ausmaß angenommen. So sehr muss der Abfall der Produktion (kranke ostasiatische Kinder, die in den Slums keine biedere Reinlichkeit zwischen zu warm und zu kalt erwarten dürfen) ignoriert werden, dass die elektronischen Geräte schon unpraktisch werden. Das Telefon ist so glatt, dass es eine Schutzhülle braucht, weniger zu dem Zweck, dass es nicht beschädigt wird, als vielmehr damit man es überhaupt noch in der Hand halten kann. Ironischerweise schlägt also die endgültige Verklärung notwendig in ihr Gegenteil um, da gerade sie um so vehementer auf die schmutzige Realität hinweist.
(Aber die Sache wird nach abstruser: Die Reinheit des Telefons verschwindet nicht einfach hinter der öden Hülle, nein, stattdessen wird die Hülle ihrerseits zum Fetisch. Da an sich jeder das gleiche langweilige, nichtssagende Produkt hat, muss es jeder für sich individualisieren, und zwar mit quietschbunten Handyhüllen. So wird das, was eben noch auf die schmutzige Seite der Ideologie hinwies, direkt selbst wieder ideologisch verklärt, nämlich im Sinne des modernen Individualismus. Das Ergebnis dieser Bewegung zeigt sich somit als – um den Hegel paraphrasierenden Marx zu paraphrasieren – „Scheiße an und für sich“[6].)
Singende Steine – brummende Telefone – dröhnendes Erz
In diesem Sinne stellt das Smartphone die Ware par excellence dar, denn es fungiert als endgültige Inkarnation der liberal-ökonomischen Ideologie, deren pseudo-dialektischen Teufelskreis es in sich schließt (und wiedereröffnet usw. usf.). So läuft etwa gegenwärtig in Deutschland ein Werbespot des Online-Preisvergleichsportals Idealo, in dem ein Vater im Internet, auf das er – ganz ‚old school‘ – per Laptop zugreift, nach einem neuen Smartphone für sich sucht. Woraufhin sich seine Tochter an ihn wendet und altklug den Vater belehrt, dass sie in diesem Moment ein neues Smartphone über die hier beworbene Idealo-App für ihn gefunden hat. Das Smartphone-Prinzip funktioniert sozusagen wie das Kettenrauchen, bei dem man die nächste Zigarette direkt an der letzten (die man dann natürlich entsorgt) anzündet.
Wenn die Ware also immer ein „Mehr“ verspricht, welches sie aber eigentlich überhaupt nicht bietet (dies ist ihr Fetischcharakter, von dem Marx spricht), dann kann man paradoxerweise sagen, dass diese Werbung überaus ehrlich ist und offen den Fetischcharakter der Ware eingesteht.[7] Denn in diese Leerstelle der Ware (also die Stelle, die das Produkt, dadurch, dass es nur ‚das‘ ist, was es eben ist, nicht ausfüllen kann) setzt sie nicht eine numinose Extraleistung, sondern sich selbst als ihr eigener unmittelbarer Nachfolger. Dies ist das ultimative Eingeständnis, das hinter der Ware wirklich nicht mehr steckt, als sie selbst. In diesem Fall, ein glatter, brummender Klotz, der dazu produziert wird, ersetzt zu werden.
Kurioserweise führt uns dies noch einmal ins alte Ägypten. So erwähnt Hegel in einer Vorlesung ein faszinierendes Phänomen, nämlich ägyptische Statuen, die wie durch ein Wunder in dem Moment, wo sie vom Morgenlicht beschienen werden, einen tiefen Ton von sich geben.[8] Außerdem, so Hegel, steht die Fertigung dieser steinernen Monumente in direkter Verbindung mit dem frühen religiösen Bewusstsein der Menschen, die nun, anstatt Objekte, die sie in der Natur vorfinden, einfach nur anzubeten, nun selbst versuchen, diese anbetungswürdigen Dinge herzustellen – und dieses nicht zuletzt auch beinahe zwanghaft tun. Warum zwanghaft? Weil diese Artefakte eben niemals diese spirituelle Essenz widerspiegeln. Der beseelende Geist kehrt nur „tot in diese des Lebens entbehrenden Kristalle“[9] ein, schreibt Hegel. Für Slavoj Žižek ist klar, dass die Stimme der Statuen genau auf diese essentielle Leere verweist: „Die Stimme stellt eine gespenstische Autonomie zur Schau, sie gehört nie völlig dem Körper […]: Es ist als ob die Stimme des Sprechers diesen aushöhlen würde […].“[10]
Zweifellos könnte das Gesagte auch ebenso gut auf das Smartphone übertragen werden. Aus diesem unhandlichen Klotz ertönt die Stimme des anderen, heutzutage weniger durch den direkten Anruf, dafür um so öfter durch die nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich distanzierte Sprachnachricht über WhatsApp. Žižek kann also vollkommen zurecht behaupten, dass dieses Phänomen die „Geburt der Subjektivität“ perfekt symbolisiert. Die Leere, die sich das menschliche Subjekt mit der Ware teilt, kann nur wieder durch eine „unmittelbare Erscheinungsform des Inneren“ widergespiegelt werden, und dieses Innere kann nur durch ein unförmiges, ungreifbares Etwas dargestellt werden.[11] So stimmen auch an dieser Stelle also das Erhabene (das Subjekt, der einzigartige Mensch am anderen Ende der Leitung) und das Exkrementale (dieses „dröhnendes Erz“ [1 Kor 13,1], die „formlose Scheiße“ wie Žižek schreibt) überein bzw. der Übergangspunkt zwischen ihnen verschwimmt in der Identität der Terme. Interessanterweise verweist Žižek hier auf Sigmund Freud, der das Phänomen beschreibt, bei dem Kleinkinder ihren Eltern ihre Exkremente zum Geschenk machen, also unmittelbar ihr Innerstes zum Präsent machen.
(Im Übrigen scheint nichts deutlicher auf diese Leere des modernen Subjekts hinzuweisen als das reale Phänomen des Selfies, das direkt mit dem Smartphone assoziiert ist. „Sieh, mein liebes Ich, und siehe, liebes Nicht-Ich, ich bin noch da! Ich, dieses liebenswerte einmalige Individuum.“ Das Selfie ist nichts anderes als das fetischistische Festklammern am modernen Individualismus der Werbung, deren leeres Versprechen das Individuum dazu auffordert seine wirkliche Leere durch dieses narzisstische Verhalten zu übertünchen. Deswegen begegnen wir dem Selfie auch in den absurdesten Situationen: z.B. auf der eigenen Hochzeit, bei der Beerdigung der Großmutter, neben einer Unfallstelle, bei der Mahlzeit und natürlich auch später auf Toilette.[12])
Präsent – Präsenz – Präsens
Das Stichwort Präsent (Geschenkt) führt uns nun tatsächlich zurück zum Thema Weihnacht. Wenn inzwischen ein Großteil der Hauptfeste des Christentums kommerzialisiert wurden, dann lässt sich wohl einsehen, dass Weihnachten den Höhepunkt dieser Kommerzialisierung des Feiertags bezeichnet. Es gilt also, sich davor zu hüten, das ‚Fest der Liebe‘ auf reinen Güterverkehr zu reduzieren. Wie durch die obige Paraphrase des Korintherbriefes angedeutet, kann hier kein Geringerer als der Apostel Paulus selbst helfen, dieser Gefahr zu begegnen.
„Wenn ich in den Sprachen der Menschen und Engel redete, hätte aber die Liebe nicht, so wäre ich dröhnendes Erz oder eine lärmende Pauke“ (1 Kor 13,1). In Hinblick auf unsere Problematik könnte man die Rede des Apostels auch wie folgt paraphrasieren: „Wenn ich nichts als Waren verschenke, durch die ich meine Liebe zum Ausdruck bringe, dann fehlt meinem Geschenk immer noch die wirkliche Liebe, wodurch es eben nur das billige Plastikspielzeug, die langweiligen Socken usw. bleibt, das schon morgen wieder in der Ecke liegt.“ Paradoxerweise verweist nun ja aber gerade dieser unförmige, buntverpackte Kram, den wir uns schenken auf genau diesen gleichsam erbärmlichen wie erhabenen Versuch, dem Anderen unser Innerstes als Präsent zu offerieren. Aber die formlose Masse darf nicht als Ersatzleistung für die Liebe gelten, es bleibt schlicht und ergreifend die Leere. (Man denke hier nur an den englischen Spruch „You can’t polish a turd…“, den die britische Extreme-Metal-Band Cradle Of Filth auf einer ihrer DVDs noch trefflich ergänzt mit „…but you can roll it in glitter“.)
Die wirkliche Liebe hingegen vermag diese Leere zu verklären, ohne sie durch ein billiges numinoses „Mehr“ aufzufüllen. „Und wenn ich meine ganze Habe verschenke und wenn ich meinen Leib dem Feuer übergäbe, hätte aber die Liebe nicht, nützte es mir nichts.“ (1 Kor 13,3) Gebe ich auch Alles, die Liebe zeigt an, dass es letztlich Nichts ist, dass auch das Ganze unvollständig bleibt.[13] In diesem Sinne, so Žižek, weist die Liebe der Unvollkommenheit einen höheren Stellenwert als der Vollkommenheit zu. In der Liebe wird sich nicht über die Leere des Präsents hinweggetäuscht, sondern sie (die Leere) wird als essentiell begriffen. Damit durchbricht die Logik der Liebe den erschöpfenden Teufelskreis des Warenfetischismus und der abgründigen Selbstliebe des modernen Individualismus.
Aber mehr noch, denn schließlich verweist das Präsent als formloser Monolith somit nicht auf einen wesentlichen Inhalt hinter dem Geschenkpapier, sondern auf die Präsenz (Gegenwärtigkeit) des Schenkenden. Und – wie wir am Beispiel der ägyptischen Statuen sahen – auch seine Präsenz ist letztlich leer. Und wieder sagt die Liebe, dass genau diese Unvollkommenheit das Erhabene ist. Das Schöne an Weihnachten ist nun, dass wir uns gegenseitig beschenken, somit jeder zum unvollkommenen Schenker wird. Und so ermöglicht gerade das Fest der Liebe dadurch, dass es alle Lieben im Hier und Jetzt der Gegenwart (Präsens) zusammenbringt, die Liebe wirklich zu feiern: Denn wir lieben stets das Unvollkommene, eben weil es unvollkommen und auch wir selbst unvollkommen sind und seien dürfen. Die wirkliche Liebe entfaltet sich nicht in einem fernen ‚Danach‘, in einem Paradies oder sonstigem, das ein „Mehr“ an Glück, Lust oder weiß Gott was verspricht. Die Liebe begreift diese einfache, flüchtige Gegenwart und macht aus ihr hier und jetzt die Wahrheit des unbedingten Miteinander. Und zu Weihnachten feiern wir ebendiese Liebe.
(Und eines darf man nicht vergessen, woran uns glücklicherweise die Weihnachtsgeschichte erinnert: Christus wurde nicht in einem Palast geboren, sondern zwischen Stroh und Mist.)
[1] Hier und im Folgenden Ernst Bloch, Geist der Utopie. Faksimile der Ausgabe von 1918, Gesamtausgabe 16, Frankfurt/M. 1977, 21.
[2] Ebd., 28.
[3] Vgl. Ernst Bloch, Geist der Utopie. Bearbeitete Neuauflage der zweiten Fassung von 1923, Gesamtausgabe 3, Frankfurt/M. 1977, 32.33.
[4] Ebd., 33
[5] Man denke hier zum Beispiel an Slavoj Zizeks beliebtes Beispiel zur Veranschaulichung der Ideologie einer Nation anhand der Konstruktion ihrer Toiletten.
[6] Vgl. Karl Marx, Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, Ausgewählte Werke in sechs Bänden, Bd. 1, Berlin 1970, 223.
[7] Das soll nicht heißen, dass diese Werbung deshalb auch nur irgendetwas Gutes an sich habe. Schließlich wird hier ja kein Smartphone beworben, sondern ein Portal, dass von nichts geringerem lebt, als dem kapitalistischen Teufelskreis von Produktion und Konsumption.
[8] Bei den von Hegel nicht näher benannten Statuen handelt es sich wahrscheinlich um die Memnonkolosse. Einen kurzen Abriss zum besagten Phänomen bietet selbstverständlich https://en.wikipedia.org/wiki/Colossi_of_Memnon. Vgl. hierzu und im Folgenden Slavoj Žižek, Die gnadenlose Liebe, übers. von N.G. Schneider, Frankfurt/M. 2001, 103-106.
[9] G.W.F. Hegel, Werke 3, Phänomenologie des Geistes, 14. Aufl., Frankfurt/M. 2017, 509.
[10] Žižek, op. cit., 105.
[11] Ebd.
[12] Die Abgründigkeit dieses Verhaltens hat natürlich auch ein eigenes Internet-Meme, das seinen exkrementalen Charakter hervorragend portraitiert: Auf der linken Bildhälfte sehen wir Neil Armstrong im Raumanzug posierend mit dem Mond im Hintergrund, auf der rechten das offensichtliche Selfie einer hübschen, jungen Frau mit ein paar Toilettenkabinen im Hintergrund. Neben Armstrong lesen wir folgenden Text: „Went to the moon, took 5 pictures.” Neben der jungen Frau: „Went to the bathroom, took 37 pictures.“
[13] Der folgende Gedanke orientiert sich an Slavoj Žižek, Die Puppe und der Zwerg. Das Christentum zwischen Perversion und Subversion, übers. von N.G. Schneider, Frankfurt/M. 2003, 116-118.
[Zuerst erschienen in Settimana 50, 12/2018.]