Was bleibt nach dem Jubiläum von der Reformation?
Zum 500. Reformationsjubiläum
Das Jubeljahr – Verzeihung… – Jubiläumsjahr der Reformation neigt sich langsam seinem Ende zu. Zu dem Zeitpunkt, an dem ich diesen Text schreibe, liegt der (legendäre) Reformationstag 2017 schon in der Vergangenheit. Auch wenn sich der 31. Oktober seit Martin Luthers Thesenanschlag von 1517 schon so manches Mal wiederholt hat, so lässt sich dennoch beobachten, dass jener Feiertag dieses Jahr auf besondere Art und Weise begangen wurde: denn zum ersten (und vorerst wohl auch einzigem) Mal am Reformationstag bekam die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland einen zusätzlichen arbeitsfreien Tag zugestanden! Eben ganz so, wie bei einem richtigen Feiertag. Ein wenig ironisch wirkt das Ganze schon: Wenn der Reformationstag bisher – ganz im Sinne einer protestantischen Leistungsmoral, wie sie Max Weber (2010) beschreibt – keinen freien Arbeitstag mit sich brachte, dann scheint es fast widersprüchlich, gerade im Jubiläumsjahr den reformatorischen Geist dadurch zu würdigen, dass man von der Pflicht absieht und sich selbstgenügsam aus der Welt ins traute Heim zurückzieht. Wird der reformatorische Impetus auf diese Weise adäquat repräsentiert? Sicherlich ist der Gedanke der Freiheit (eines Christenmenschen) ein zentraler Aspekt nicht nur des lutherischen Denkens; aber geht es ihm doch auch an dieser Stelle vielmehr um ein Frei-sein-für (Gott, den Nächsten, die Arbeit) und gerade nicht um ein Frei-sein-von (der Pflicht die ‚standesgemäße’ Arbeit zu verrichten). Luthers politisches Denken spricht hier eine deutliche Sprache, und zwar nicht zugunsten des Müßiggangs. Wollte man sich allerdings heute auf Luther berufen, um den erdrückenden Arbeitsalltag zu heiligen, so wäre dies eine beinahe zynische Geste: denn in der modernen (neo-)liberale Gesellschaft ist der feste Arbeitsplatz mehr ein Privileg denn eine Selbstverständlichkeit; und ist man erst im Job angekommen, wird dieser leicht wieder zur alltäglichen Verpflichtung gegenüber der eigenen Existenz. Denn diese möchte zwar abgesichert sein, fühlt sich nun aber hinsichtlich ihrer je individuellen Geltung und Selbstverwirklichung, die die Arbeitswelt doch eigentlich versprochen hatte, vom Alltag völlig in Anspruch genommen. Und so bedarf es also des „Moratoriums des Alltags“ (Marquard 2015), genauer gesagt des Festes, um sich von der Last der Verpflichtung zumindest vorübergehend zu befreien. Unter diesem Aspekt also ist die Entscheidung für den freien Arbeitstag am Reformationstag durchaus nachvollziehbar. Vielleicht sogar ganz im Sinne eines Martin Luther, der ja, wie Dietrich Bonhoeffer am Reformationstag 1943 im Anschluss an Søren Kierkegaard schreibt, „heute das Gegenteil von dem sagen würde, was er damals gesagt hat“ (Bonhoeffer 1998; vgl. Kierkegaard 2003).
Die ökonomische Dimension drängt sich im Reformationsjubiläums allerdings auf noch andere Art und Weise in den Vordergrund. Stelle ich mir nämlich die Frage, wie sich mir das Reformationsjahr 2017 präsentiert(e), dann taucht neben den thematischen Veranstaltungen und Workshops an der Universität vor allem der Aspekt des Marketings auf. Die Reformation (wirklich die Reformation?) ist ein Verkaufsschlager: Angefangen bei den Myriaden von primär populärwissenschaftlichen Buchveröffentlichungen über Luther (wohlgemerkt zu ‚Luther’, weniger zur ‚Reformation’ per se, zu ‚Calvin’ oder ‚Melanchthon’, geschweige denn zu ‚Erasmus von Rotterdam’), über den Weg der Luthersocken und des Kinderspielzeugs (Luther als Playmobilfigur) bis hin zum Lutherbier ist alles dabei, was das Herz begehrt. Luther als Marke, als brand, ein merkantiles Brandzeichen Europas. Der kapitalistische Geist im Sinne Webers kommt hier scheinbar doch auf seine Kosten. Und ein ironischer Beigeschmack verbleibt: denn mit der Fülle an Luther-Merchandise liegt etwas vor, das wie die krude Mischung aus den Früchten der protestantischen Leistungsmoral und einer pseudo-katholischen (katholikós, allumfassend, global) Ikonografie wirkt. Einem Calvin liefe diese Ästhetisierung des reformatorischen Gedankens völlig zuwider, und auch ein Luther hatte eigentlich nicht im Sinn auf diese Weise präsent zu sein. Zwar wirkte er als politische Figur, aber eigentlich wollte er nur reden, disputieren; gelernt hat er sich zu vermarkten.
Die Theologie, die Luther dabei so gerne im Fokus der einflussreichen Akteure seiner Zeit gesehen hätte, ist ein diffiziles Thema, dem ich mich hier in der Kürze nicht widme, obwohl gerade sie in Form der enormen Weimarer Ausgabe noch tagein tagaus theologische Denker umtreibt. Und dies trifft auch für die Schriften Calvins, Melanchthons, Erasmus’ usw. zu. Das Evangelische ist Programm, und man hinterlässt seine eigene Botschaft. Denn selbst das Prinzip sola scriptura bedingt vielmehr die Öffnung des Dialogs über ihren Inhalt, anstatt die Zementierung ideologischen Verklärung, die ‚allein’ ihr Bild von Gott, der Welt oder dem Menschen durchsetzen will.
Trotzdem darf man eine Sache nicht unter den Tisch fallen lassen: Gerade die zwei großen ‚Konfessionsstifter’ der Reformation, Luther und Calvin, konnten auch fanatisch sein, bis hin zu dem Punkt, wo es Menschenleben gekostet hat. Da ist der Bauernkrieg. Da ist der Fall Michel Servet. Die ‚konfessionellen Bürgerkriege’ des 16. und 17. Jahrhunderts waren, wie Odo Marquard sagt, ‚hermeneutische Bürgerkriege’, in denen über das einzig wahre und richtige Verständnis einer Schrift gekämpft wurde. Auch das ist ein Erbe der Reformation, das bleibt, es lässt sich einfach nur schlecht vermarkten.
Und dennoch reicht das Charisma dieser Personen aus, um ihre moralischen Ambiguitäten zeitweilig zu suspendieren: So zeigt sich etwa der dänische Theologe/Philosoph/Schriftsteller Søren Kierkegaard stark beeinflusst von Luther, wenn er seine Kritik an einer selbstgenügsamen Christenheit, die sich ihre billige Gnade gefallen lässt, formuliert. Aber ihn beeindruckt dabei der Mensch Luther und weniger dessen Werk bzw. Theologie. Dieser Mann der einfach ‚Nein!’ sagte, und sogar dann noch ‚Nein!’ sagte, als seine Umgebung ihm zusehends feindlicher gesonnen war. Für Theologen ist Luther ein Theologe. Aber darüber hinaus ist Luther eine Legende oder gar ein moderner Mythos: Da ist der kleine Mönch, in einer kleinen Stadt in Deutschland. Plötzlich erschallt der Ruf des Abenteuers (Kampf wider den Ablasshandel). Die erste Schwelle der mythologischen Heldenreise zu überwinden ist nicht leicht (Thesenanschlag), aber zusammen mit dem Mentor (der Paulus des Römerbriefs) gelingt es. Es gilt viele Prüfungen zu bestehen, allen voran den Reichstag zu Worms. (Dabei wirkt der One-liner, „Hier stehe ich und kann nicht anders!“, wie dramaturgisches Gold.) Überallhin treibt es den „Helden“ oder zumindest seine Schriften und Flugblätter. Und auf der Höhe des Erfolgs kehrt er zurück in die Heimat, um sich aus der abenteuerlichen Welt ins traute Heim zurück zu ziehen. Mitgebracht hat er das Elixier (die Freiheit eines Christenmenschen), das sich symbolisch in der Eheschließung mit Katharina von Bora widerspiegelt. Happy End.
Mit Blick auf die moderne Medienlandschaft diagnostiziert Gianni Vattimo folgendes: „Was uns an der verbreiteten Ästhetisierung negativ auffällt […] ist das Fehlen jeglicher Konfliktualität. Und dieses Fehlen hat eine Erklärung, die wir unter dem Schlagwort ‚Forderung des Marktes’ zusammenfassen können. Es ist die Absicht, dem Markt zu dienen […].“ (Vattimo 1998) Auch im Reformationsjubiläum begegnet die paradigmatische Oberflächenverhübschung. ‚Reformation light’: Das immer gleiche Portrait von Luther auf allen Werbebannern und Plakaten, Keksen und Bonbons, die immer wieder gleichen Zitate Luthers bei Lesungen und nun auch auf Socken gedruckt, vermitteln ein allzuleicht verdauliches Bild einer Zeit, die, wie auch ihre zugehörigen Gestalten, alles andere als leicht verdaulich ist. Versöhnung und Reorganisation sind sekundäre Momente der Reformation. Zunächst ging es einmal um individuelle Anfechtung, um Selbstprüfung und das kritische Nachfragen. So, wie die ‚Marke Luther’ (nicht nur) im Jubiläumsjahr eingesetzt wird, kann sie aber auch für nicht viel mehr herhalten, als die oben vorgeführte zwar unterhaltsame, letztlich aber banale Version seiner Geschichte. Kein Wunder, wenn das ästhetisch reduktionistische Reformationsjubiläum den ironischen und kritischen Kommentatoren zum Opfer fällt. Was bleibt also nach dem Jubiläum von der Reformation? Das Gleiche, was auch ohne das Jubiläum schon da war und (hoffentlich) da ist: Die Aufforderung genau hinzusehen, kritisch nachzufragen, auch im Angesicht der Anfechtung. Und damit bleibt (nicht nur für die Theologie) die Arbeit am Mythos Luther.
Literatur
Dietrich Bonhoeffer, Wiederstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, DBW 8, hg. von Chr. Gremmels et al., Gütersloh 1998.
Søren Kierkegaard, Zur Selbstprüfung der Gegenwart anbefohlen, Gesammelte Werke und Tagebücher, Bd. 19, Simmerath 2003.
Odo Marquard, Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Essays, Stuttgart 2015.
Gianni Vattimo, „Die Grenzen der Weltauflösung“, in: G. Vattimo, W. Welsch (Hrsg.), Medien – Welten Wirklichkeiten, München 1998.
Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Vollständige Ausgabe, hg. von D. Kaesler, 3. Aufl., München 2010.
[Zuerst erschienen in Settimana 46, 11/2017]