(K)ein Leben ohne Frau

Über Serotonin von Michel Houellebecq

Als Michel Houellebecq im September letzten Jahres mehr oder weniger heimlich, still und leise heiratete, waren seine Fans wie auch seine Kritiker zunächst etwas irritiert, doch letztlich wurde die Vermählung des Autors mit Qianyum Lysis Li ohne viel Aufhebens gebilligt. Keine vier Monate später erscheint sein neuer Roman Serotonin und schon sieht die Sache ganz anders aus. Einmal mehr spaltet das Enfant terrible die Geister, aber wer hätte auch etwas anderes erwartet?

Dennoch scheint es diesmal einen gemeinsamen Tenor der Kritiken zu geben. Man ist sich darin einig, dass Houellebecq irgendwie zahmer bzw. fad geworden ist (wobei sich in der jeweiligen Wortwahl immer noch eine Art Parteilichkeit ausmachen lässt). Ganz unbegründet ist dieses Urteil allerdings nicht, denn in der Tat stellt Serotonin mehr so etwas dar wie eine Variation über ein bekanntes Thema, das der Autor schon seit seinen schriftstellerischen Anfängen in seinem Werk verarbeitet. Dies muss allerdings beim besten Willen nichts Schlechtes sein, denn da es sich bei diesem Thema um die Liebe handelt, ginge wohl jede Kritik ins Leere, die behaupten wollte, der Roman sei überflüssig und im Übrigen gäbe es ja ohnehin schon genug Liebesromane.

Ja, Serotonin ist ein Liebesroman. Aber ein Liebesroman der etwas anderen Art. Vielleicht könnte man ihn einen ‚invertierten Liebesroman‘ nennen. Aber Genrebezeichnungen brauchen uns eigentlich nicht zu interessieren, denn viel bemerkenswerter ist der Punkt, dass Serotonin ein Liebesroman für Männer ist. Warum ich das denke, möchte ich im Folgenden erläutern.

Ein Buch für Männer

Als ich vor einiger Zeit mit einer (französischstämmigen) Buchhändlerin über Michel Houellebecqs Unterwerfung (2015) ins Gespräch kam, meinte sie, dass dieser Roman doch eigentlich ein Buch für Frauen sei und unbedingt von Frauen gelesen werden sollte. Auf mein Nachfragen, warum sie dieser Meinung sei, erhielt ich eine bemerkenswerte Antwort: Nun ja, meinte sie, weil die Frauen in dem Buch keine Rolle spielen.

Was ihre Antwort impliziert, ist, dass die gesellschaftliche Transformation, die Houellebecq in Unterwerfung beschreibt, den offensichtlichen (und nicht länger nur subversiven) Sieg des Patriachalismus über emanzipatorische Bewegungen darstellt. In Unterwerfung geht es nicht um Religion, Glaube, Überzeugungen und Ideale, sondern um das gleichermaßen uninspirierte, aber unaufhaltsame Abspulen der neoliberalen Herrenlogik, die in der Etablierung einer leblosen und rigiden Weltordnung resultiert. Die Logik des Herren kennt nur den Status, und wo sie vorherrscht, werden auch die Frauen wieder eingehegt in traditionelle Rollen, wie Hausfrau, Gattin und Gespielin. In der Männerwelt hat nämlich alles und jeder seinen Platz und das Leben ist reduziert auf „eine Abfolge von Formalitäten“[1].

Von daher ist die Einschätzung meiner Buchhändlerin absolut plausibel, denn die Lektüre von Unterwerfung scheint den Akteur*innen emanzipatorischer Bewegungen (was gewissermaßen auch Bildungsinstitutionen miteinschließt) entgegenzurufen: Seid auf der Hut, legt euch ins Zeug! Nun darf man diese Aufforderung nicht falsch verstehen: Es geht nicht darum, ein Auge auf den Autor und seine Machenschaften zu haben und ihm bei jeder Gelegenheit die Political-Correctness-Keule über den Kopf zu ziehen (eine vergebliche Liebesmüh, denn welcher Verleger sähe bei dermaßen viel kostenloser Publicity schon die Notwendigkeit, Houellebecqs Bücher aus dem Programm zu nehmen?); sondern es geht darum sich der neoliberalen und kapitalistischen Mechaniken bewusst zu sein, deren horrende Auswirkungen der Autor in seinen Büchern lebensnah (und nicht einfach in Form von nichtssagenden Zahlen und Statistiken) darstellt.

Wenn nun also Unterwerfung eine solche Vision formuliert, die gerade Frauen dazu auffordert, aufzupassen, dann stellt Serotonin das komplementäre Werk dar, das sich an die Männer wendet und sie mit der selbstverschuldeten Schreckensvision konfrontiert.

Von der Unmöglichkeit, ein Mann zu sein

Serotonin handelt vom gescheiterten Leben des nichtverbeamteten Ministeriumsangestellten Flaurent-Claude, der sich mithilfe des fiktiven Antidepressivums „Captorix“ krampfhaft an einem glücklichen Zustand seines vergangenen Lebens festzuklammern versucht.[2] Aber, wie andere vor ihm (man denke hier an Michel aus Houellbecqs Roman Plattform von 2001), wird auch er scheitern, und zwar in Ermangelung weiblicher Liebe.

Wie es für Houellebecq typisch ist, findet sich also auch im Hintergrund von Flaurents Geschichte jene Auseinandersetzung mit der Frage nach dem „sexuellen Sein“ und dem Verhältnis vom Weiblichen und Männlichen. Das ontologische Schema der Verschränkung beider Aspekte durchzieht fast sein ganzes Werk.[3] Aber wie gestaltet sich nun dieses Verhältnis?

Die Beschreibung der von Depressionen überschatteten letzten Tage von Flaurents Leben, die unter anderem die Schilderung seines abrupten Ausstiegs aus dem Berufsleben, das Wiedersehen mit seinem alten Freund, dem Großbauern und unfreiwilligen Hotelkaufmann Aymeric, sowie dessen symbolischen Selbstmord bei der von ihm selbst mitangezettelten gewaltsamen Protestaktion ob einer Verordnung über die Milchpreise enthalten, werden immer wieder von folgendem Gedanken unterbrochen: Die Frau übt einen belebenden Einfluss auf den Mann aus. In Passagen mit Traktatcharakter behandelt Flaurent/Houellebecq diese Eigenschaft der Frau als ein Modus der Liebe:

„Für die Frau ist die Liebe eine Macht, eine zeugende, tektonische Kraft, wo die Liebe bei der Frau in Erscheinung tritt, tut sie es als eines der gewaltigsten Naturereignisse, die uns die Natur zu bieten hat, man muss ihr ängstlich begegnen, sie ist eine schöpferische Kraft vom Rang eines Erdbebens oder einer Klimaumwälzung, sie bringt ein anderes Ökosystem, eine andere Umwelt, ein anderes Universum hervor, durch ihre Liebe erschafft die Frau eine neue Welt […].“[4] Von daher kann Flaurent feststellen, dass die Männer, die einer „Frau Glauben … schenken […] wiederbelebt aus ihren Händen hervor[gehen] […].“[5]

Das maskuline Sein hingegen steht dazu im starken Kontrast: „Männer verstehen es im Allgemeinen nicht zu leben, sie sind nicht wirklich mit dem Leben vertraut […].“[6] Die „grandiosen Projekte“, die sie angehen, bedeuten letztlich nichts und verweisen nur auf ihre „männliche Beschränktheit“.[7] Besonders ihr Großprojekt des Verwaltungsstaates ist nichts anderes als der Inbegriff der Leblosigkeit: „[A]us behördlicher Sicht ist so gut wie gar nichts möglich, das Ziel der Behörden ist eine maximale Beschränkung der Lebensmöglichkeiten, sofern es ihnen nicht gelingt, sie schlicht ganz zu vernichten […].“[8] Der Patriarchalismus, der die subversiven und ideologischen Strukturen des modernen Rechtsstaats bedingt, ist in letzter Konsequenz der größte Feind des gemeinsamen Lebens der Menschen. Emblematisch dafür steht der Satz: „Das Verlassen der Familie stellt in Frankreich keine Straftat dar.[9]

Man muss fragen: Spricht hier eigentlich noch Flaurent oder der Autor selbst? Insbesondere unter dem Aspekt, dass dieser bereits 1996 folgendes feststellte: „Was man die ‚Befreiung der Frau‘ genannt hat, kam eher den Männern gelegen, die darin die Gelegenheit sahen, ihre sexuellen Begegnungen zu vervielfachen. Darauf folgte die Auflösung des Paares und der Familie, das heißt, der beiden letzten Gemeinschaften, die das Individuum vom Markt trennten.“[10] So oder so, die Aussagen entsprechen der Realität, das bestätigt auch die Wissenschaft[11].

Es ist nun die Macht der weiblichen Liebe, die das nichtige Sein des Mannes in ein erhabenes Staunen versetzt. Das Maskuline gerät dabei in eine ontologische bzw. existenzielle Krise. Woran mag das liegen? Alain Badiou bietet eine interessante Theorie über das „sexuelle Sein“, die auf unsere westliche Gesellschaft gemünzt ist.[12] Ontologisch betrachtet nämlich ist die Maskulinität eigentlich nicht mehr als ein Durchgangsstadium der Femininität. Während nämlich das Männliche sich nur in einem Status äußert, an dem dann (krampfhaft) festgehalten wird, ist dagegen das Weibliche (z.B. auch im Feld der traditionellen Frauenfiguren, die die Männerwelt hervorgebracht hat) stets als Zweiheit bestimmt. Das Weibliche rangiert immer zwischen zwei Polen. Die Frau kann z.B. auf der einen Seite Hausfrau sein, aber auch Verführerin oder Heilige, stets bildet auf der anderen Seite die Mutterschaft einen realen oder virtuellen Pol ihres Seins. Wichtig ist, dabei zu beachten, dass das Weibliche somit nicht endgültig in einem Status festgesetzt werden kann. In Serotonin spielt auch Houellebecq auf diese unhintergehbare Zweiheit an, indem er Flaurent ein abgewandeltes Pascal-Zitat schreiben lässt: „‚Die Frau ist weder Engel noch Nutte‘ usw. ‚Je mehr man den Engel spielen will, desto mehr wird man zur Nutte‘“[13].

Badiou spricht daher von einer „maskulinen Territorialität“ als Modus der „femininen Virtualität“. Mit dieser Grundannahme lässt sich die Geschlechtlichkeit und ihre Auswirkung auf unser Weltbild verstehen. Denn vom Standpunkt der Femininität aus wird so jedes mögliche Geschlecht denkbar und in dem nicht bestimmten Term virtualiter impliziert. Vom Standpunkt der Maskulinität hätte man hingegen nur die Möglichkeit mit einer Grundlegenden Binarität zu arbeiten, die zunächst ‚männlich‘ voraussetzt und alles Folgenden als ‚nicht-männlich 1‘, nicht-männlich 2‘, ‚nicht-männlich 3‘ usw. bestimmt und jedesmal dessen Status amalgamiert. Ein solcher Status ist aber nichts als eine Illusion, die wie ein Trugbild zusammenbricht, wenn man sich nur an die Wirklichkeit hält, in der es absolute Seinsweisen, die sich unzweideutig kategorisieren lassen, nur auf Formblättern der Behörden gibt.[14] Eine Gesellschaft, die der Logik der maskulinen Ontologie folgt, muss somit fast notwendigerweise verknöchern.

Ohne Frauen sind wir nichts

Wie in seinen vorigen Romanen führt uns Houellebecq nun auch in Serotonin vor, was mit den lebenden Menschen in einer solch unwirtlichen Welt passiert: Sie gehen schlichtweg zugrunde und mit ihnen ihre Menschlichkeit und ihr Sinn für das Menschsein, das doch eigentlich von Natur aus ein Angewiesensein ist. „Ich glaube nicht, dass der Westen wirklich leben will“[15], schrieb der Autor bereits vor siebzehn Jahren. Und in 2019 schildert Houellebecq erneut Szenarien, die ihn zu dieser Überzeugung haben kommen lassen und bei denen einem das Blut in den Adern gefriert:

Erschreckend ist es mitanzusehen, wie ein zehnjähriges Mädchen von einem pädophilen Soziopathen in die Rolle der Verführerin gedrängt wird, die es dann wie selbstverständlich spielt, und dann noch mitanzusehen, wie Flaurent aus Angst davor, selbst Opfer zu werden, die Augen davor verschließt.[16]

Erschreckend ist es mitanzusehen, wie Flaurent tatsächlich die Ermordung des vierjährigen Sohnes seiner einstigen großen Liebe in Betracht zieht, um dessen Platz einzunehmen und an seiner statt ihre Liebe zu kosten. Das Motto „entweder er oder ich“[17], vermittelt nochmals die Statik des Männlichen, das sein Territorium in Gefahr sieht.

Erschreckend ist es mitanzusehen, wie aussichtslos die Situation für diejenigen ist, die aus dem System aussteigen wollen oder von ihm abgeschrieben wurden. Jedoch weit davon entfernt ‚die Gelbwesten vorhergesagt‘ zu haben, spiegelt der im Buch geschilderte Protest der Milchbauern das alte Thema wider. Denn sie gehen zugrunde, weil sie versuchen ihr ‚Lebenselixir‘ zu verteidigen. Ohne das Ganze auf einen schlichten Symbolismus zu reduzieren, lässt sich wohl feststellen, dass der Protest über die Preissenkung für Milch, dem Nahrungsmittel, dass ausschließlich von weiblichen Säugetieren produziert wird, eine nicht unerhebliche Akzentverschiebung gegenüber den Protesten gegen zu hohe Preise für Diesel, dem Produkt, das auch männliche Statussymbole (wie etwa Flaurents Mercedes G 350) antreibt, bedeutet.

Am Ende muss Flaurent (mit Verweis auf Proust) sogar feststellen, dass „selbst die Freundschaftsbeziehungen nichts Substanzielles zu bieten hätten“, und dass das, was man brauche „‚lockere Liebeleien mit erblühenden jungen Mädchen‘“ seien.[18] Dies klingt wie der Widerhall eines Bonmots von Chesterton, der die Tugend der Frauen bewundert, wenn er schreibt: „Dein Freund liebt dich, aber läßt dich, wie du bist; deine Frau liebt dich und ist ständig bestrebt, dich umzukrempeln.“[19] Das Männliche stagniert, das Weibliche animiert.

Von daher ist Serotonin ein Buch für Männer, das ihnen entgegenruft: Seid auf der Hut, denn ohne Frauen seid ihr nichts.


[1] Michel Houellebecq, Serotonin, übers. von Stephan Kleiner, Köln 2019, 334.

[2] Der Name „Captorix“ erinnert an das lateinische captare („greifen“, „fassen“, „jagen“, aber auch „überlisten“ und „hintergehen“), das – vielleicht zu Vermarktungszwecken? –  mit dem niedlichen Suffix à la Uderzo und Goscinny versehen wurde.

[3] Interessanterweise ist die Thematik nur in Karte und Gebiet (2010) stark unterbelichtet; was beachtlich ist, wenn man bedenkt, dass offensichtlich nur der Houellebecq-Roman, der das gegenwärtig teilweise stark ideologisch verklärte Feld des Sexualitätsdiskurses auslässt, in Frage kommt, dem Autor den Prix Goncourt einzubringen.

[4] Houellebecq, Serotonin, 66.

[5] Ebd., 151.

[6] Ebd., 165.

[7] Ebd., 165.171.

[8] Ebd., 7.

[9] Ebd., 55.

[10] Michel Houellebecq, Interventionen, übers. von Hella Faust, 2. Aufl., Köln 2016, 87.

[11] Man werfe zum Beispiel einen Blick ins Werk der renommierten Soziologin Eva Illouz.

[12] Im Folgenden beziehe ich mich auf Alain Badiou, Versuch, die Jugend zu verderben, übers. von Tobias Haberkorn, Berlin 2016, 92-102. Die verwendete Terminologie folgt dabei Alain Badiou, Gott ist tot. Kurze Abhandlung über eine Ontologie des Übergangs, übers. von Jürgen Brankel, 3. Aufl., Wien/Berlin 2015, 61.

[13] Houellebecq, Serotonin, 261. Das Pascal-Zitat lautet eigentlich folgendermaßen: „Der Mensch ist weder Engel noch Tier, und das Unglück will es, daß wer einen Engel aus ihm machen will, ein Tier aus ihm macht.“

[14] Man denke in diesem Zusammenhang auch an die Absurdität, Aspekte wie Hautfarbe, Rasse, Nation usw. in feststehende Kategorien einzuordnen.

[15] Houellebecq, Interventionen, 155.

[16] Houellebecq, Serotonin, 208f.

[17] Ebd., 289

[18] Ebd., 323. Das Proust-Zitat stammt aus Die wiedergefundene Zeit.

[19] Gilbert K. Chesterton, Orthodoxie. Eine Handreichung für die Ungläubigen, übers. von Monika Noll und Ulrich Enderwitz, 2. Aufl., Kißlegg 2015, 143.

[Zuerst erschienen in Settimana 7, 2/2019.]