Wir leben in einer Welt, in der viele, wirklich viele Leute darüber in Ekstase geraten, dass gegenwärtig ein Film mit dem (bezeichnenden) Titel „Infinity War“[1] in den Kinos läuft. Über dieses Phänomen lohnt es sich nachzudenken. Denn die Frage, die sich stellt, lautet: Warum rennen Millionen Menschen in die Kinos, um Hollywoods Fließbandproduktion von quietschbunten Heldengeschichten zu bestaunen und zu preisen, ja sogar herbeizusehnen, obwohl sie immer bekommen, was sie schon kennen? Um uns dieser Frage anzunähern, will ich einen kleinen Umweg über das Fernsehen machen, bevor wir uns wieder dem Big-Screen-Spektakel zuwenden.
Der Gottesdienst auf dem Sofa
In Deutschland legen Bürgerinnen und Bürger seit den 1970er Jahren sonntags ein erstaunliches Verhalten an den Tag (oder besser gesagt Abend). So finden sich die Menschen an besagtem Abend gerne vor dem Fernseher ein, um den „Tatort“[2] zu gucken. Seit Jahr und Tag gibt es so jeden Sonntag ein Verbrechen (i.d.R. Mord), das von zwei mehr oder weniger sympathischen Polizeikommissaren aufgeklärt wird. Und seit Jahr und Tag genießen es Bürgerinnen und Bürger – unabhängig von ihrer sozialen Zugehörigkeit – sich am Sonntagabend vom „Tatort“ berieseln zu lassen.
Ich lehne mich nicht weit aus dem Fenster, wenn ich behaupte, dass dieses Verhalten religiös-ritualistische Züge aufweist.[3] Der Sonntag, pardon!, der heilige Sonntag ist hier eigentlich nicht das Ende der Woche, wie er heutzutage wahrgenommen wird, sondern, ganz traditionell, der Anfang der neuen Woche, genauer der Arbeitswoche. Die ganze Woche über wurde gearbeitet. (Für viele gilt dies auch für den Samstag; und wer samstags nicht arbeiten muss, der konsumiert zumindest.) Aber am Sonntag muss man ‚seine Batterien aufladen‘, die Freizeit nutzen, um was zu tun? Natürlich um am Montag wieder arbeiten zu gehen.
Anders ausgedrückt: „Die [Arbeits]Zeit hatte den Menschen (das menschliche Sein), die Gesellschaft, den Kosmos verbraucht, und diese destruktive Zeit war die profane Zeit […]: sie mußte aufgehoben und damit der mythische Augenblick wiederhergestellt werden, in dem die Welt […] entstanden war.“[4] Die Wiederherstellung, die der Religionswissenschaftler Mircea Eliade hier anspricht, wird durch das religiöse Ritual geleistet. So folgt etwa die Liturgie eines Gottesdienstes einer inhärenten Logik und Systematik, die neben den Inhalten, die sie vermittelt (Predigt, Fürbitten, Gebet, Segen), auch die Wiederherstellung des Kosmos symbolisiert. Auf diese Weise wird die profane chaotische Welt wieder zum heiligen geordneten Kosmos.
Nichts anderes symbolisiert der „Tatort“: Ikonische Titelmusik leitet den (post)säkularen Gottesdienst ein, wie das Orgelspiel das kirchliche Äquivalent. Der Mord in der Eingangsszene symbolisiert die profane Welt, die von bösen (aber durchaus menschlichen) Urmächten ins Chaos gestürzt wurde. Zusammen mit den Ermittlern reisen die Fernsehzuschauer wie Dante unter der Führung Vergils durch das Inferno und über den Purgatorio. Am Ende ist der Fall gelöst, der Kosmos wieder in Ordnung. Und wie Vergil kurz vorm Paradiso Dante der seligen Beatrices anvertraut, kann der gewissenhafte Arbeiter sich entspannt und aufgeladen in die neue Woche begeben. Morgen wird wieder gearbeitet. Das Spiel beginnt von vorne. Wer braucht da schon BibelTV?
Mythen, Manipulation, Moneten
Und nun zurück zu Hollywood. Der Umweg über das Fernsehen führt uns die Selbstverständlichkeit eines menschlichen Bedürfnisses vor Augen. Wir mögen diese Geschichten. Wir wollen unsere (mythischen) Helden. Dabei ist es eigentlich relativ egal, wie diese aussehen oder heißen, vielmehr kommt es auf die Struktur ihrer Geschichten an. Dies zeigt uns Joseph Campbell in seinem Hauptwerk The Hero with a Thousand Faces.[5] Die Erkenntnis, dass die zirkuläre Struktur der mythologischen Heldenreise, über die Campbell uns unterrichtet, zudem noch ein gefundenes Fressen für das amerikanische Erfolgskino ist, verschafft uns Christopher Vogler in The Writer‘s Journey, denn jene lädt zum Recycling ein.[6]
Beliebte Geschichten und Figuren bekommen Fortsetzungen. Dieses Prinzip wird derzeit von Marvel auf die Spitze getrieben. „Infinity War“ – dieser Titel hat etwas Symptomatisches: ‚Krieg der Unendlichkeit‘.[7] Der Kinobesucher ist zwischen die Fronten des menschlichen Bedürfnisses nach mythisch versicherter Unendlichkeit und Ordnung auf der einen und des perfiden kapitalistischen Versprechens eines vermeintlich unendlichen Genießens nach Plan auf der anderen Seite geraten. Dass der Kapitalismus durch Werbung und dergleichen Begehren schafft, die vorher gar nicht da waren, ist hinlänglich bekannt. Hier aber wird ein natürliches Bedürfnis nach (Helden-)Geschichten durch Werbung manipuliert und schließlich monetarisiert.
Wie es manipuliert wird? Marvel kündigt nie nur einen Film an, sondern immer gleich ein ganzes Bündel. Das Ganze nennt sich dann „Phase one“, „Phase two“ usw.[8] Der Konsument weiß so 2008 schon, was er 2012 im Kino sehen wird. Hier wird eine Befriedigung in Aussicht gestellt, die Hoffnung verspricht. Man wird noch in den nächsten Jahren dem trübseligen Alltag durch den immergleichen Film im neuen Gewand entfliehen können.[9] Aber diese Art Ankündigungen zeigen das Perfide an Marvels Vermarktungspolitik: Die Produkte sind nicht die Filme. Die Produkte sind die Kinobesucher, die ihre Geschichten wollen und sich daran erfreuen, wie das gesamte Pantheon der Superhelden sich im Stile Homers hintergeht oder einfach nur mal gepflegt die Fresse poliert. Brot und Spiele! Nein, Marvel ist kein Filmprojekt, sondern ein Finanzierungsplan.[10]
Wir drehen uns im Kreis…
Aber wem sollte man den Genuss dieser Filme schon vorwerfen? „Genieße!“ ist ja neben „Sei wie du bist!“ der kategorische Imperativ unserer westlichen Gesellschaft. Selbstverständlich macht es eine Person nicht zu einem schlechten Menschen, wenn sie diese Filme mag und konsumiert. Ich wiederhole noch einmal: Was schlimm ist, vielleicht sogar bösartig, ist das, was die kapitalistische Propagandamaschine Hollywood mit diesem natürlichen Bedürfnis macht, nämlich es sich bezahlen lassen.
Und trotzdem, der Konsument ist nicht unbeteiligt. Woher zum Beispiel kommt wohl die zeitgenössische geradezu panische Angst vor Spoilern? Unsere durch (Arbeits)Alltag, Konkurrenz- und Selbstverwirklichungsdruck erschöpfte Existenz[11] klammert sich an den ephemeren Hauch des Fühlens. Egal, ob es ums Staunen, den Ekel, die sexuelle Erregung oder sonst etwas geht, Hauptsache dem Realitätsprinzip nur für einen Augenblick entkommen. Doch auf eine Sache ist Verlass: Das kapitalistische Über-Ich schläft nicht und das nächste Begehren wird geweckt werden.
Wer sich also die Ohren zuhält, wenn über die neuen Marvelfilme oder die neue Folge „Game of Thrones“ gesprochen wird, die man noch nicht kennt, sollte sich vielleicht einmal an einen Vers von Rilke erinnern: „Du mußt dein Leben ändern.“[12]
[1] „Avengers: Infinity War“, A. u. J. Russo, Marvel Studios, USA 2018.
[2] Beim Tatort handelt es sich um eine regelmäßiges Krimiformat, dass vom öffentlich-rechtlichen Fernsehsender ARD ausgestrahlt wird.
[3] Zum Forschungsgegenstand siehe z.B. H. Albrecht, Die Religion der Massenmedien, Stuttgart, Berlin, Köln 1993; A. Schilson, „Jenseits aller Kommunikation. Medien als Religion“, in: H. Kochanek, Ich habe meine eigene Religion, Zürich 1999, 130-157.
[4] M. Eliade, Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen [1957], übers. v. E. Moldenhauer, 5. Aufl., Frankfurt/M., Leipzig 2016, 71. Der Zusatz des Wortes „Arbeit“ stammt von mir und dient hier der Kontextualisierung. Selbstverständlich reduziert Eliade seinen Gedanken nicht nur auf die Arbeit.
[5] J. Campbell, The Hero with a Thousand Faces [1949], 3. Aufl., Navato, CA 2008.
[6] C. Vogler, The Writer‘s Journey. Mythic Structure for Writers, 3. Aufl., Studio City, CA 2007.
[7] Als genitivus subiectivus oder genitivus obiectivus.
[8] Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Marvel_Cinematic_Universe (Zugriff: 15.05.2018)
[9] „Die Grundlage des unternehmerischen Handelns ist … die ewige Abwandlung des Immergleichen: Veränderung der Serie, des Modells, des Erscheinungsbildes. Solcherlei unwesentliche Modifikationen dienen dazu, den Verbraucher mit den vorgegaukelten Veränderungen zu verwirren und ihm gleichzeitig stets mehr oder weniger dieselbe Sache anzubieten. Es soll ein lebenslanges Begehren bei Verbrauchern erzeugt werden. Was können sie anderes tun, als zu begehren und sich wie Kinder vollzustopfen?“ (B. Maris, Michel Houellebecq, Ökonom, Köln 2015, 67.)
[10] Bezeichnenderweise gehört Marvel Studios zur Walt Disney Company, die derzeit unter eigenem Namen die Cashcow „Star Wars“ melkt.
[11] Vgl. A. Ehrenberg, Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart, übers. v. M. Lenzen u. M. Klaus, Frankfurt/M. 2008.
[12] Aus R.M. Rilkes Gedicht „Archaïscher Torso Apollos“.
[Zuerst erschienen in Settimana 29, 7/2018.]