Gedanken zu Shape of Water von Guillermo del Toro
Shape of Water von Guillermo del Toro ist ein herausragender Autorenfilm. Nicht ohne Grund konnte der Film bei sämtlichen großen und kleinen Preisverleihungen in den wichtigsten Kategorien punkten, denn sein Regisseur widmet sich den zentralen Fragen des Menschseins, und dies tut er nicht oberflächlich und plakativ, sondern poetisch und ästhetisch. Del Toros neues Werk nimmt sich die basalen Dimensionen des menschlichen Lebens, nämlich Politik, Wissenschaft, Kunst und vor allem Liebe vor. Nicht zuletzt aber weist der Film auch noch eine mehr oder weniger subtile biblisch-theologisch Facette auf.
Ein Mythos für eine Moderne
Del Toro selbst bezeichnet Shape of Water als „a fairytale for troubled times“[1] und man ist versucht dieser Genrezuordnung zuzustimmen. Genauso wie die Idee, dass man es hier mit einer modernen Fassung des Märchens vom Froschkönig zu tun habe,[2] verlockend ist. Warum verlockend? Weil ein Märchen als etwas wahrgenommen wird, das (im Gegensatz zu Sagen, Legenden und Mythen) vollkommen frei erfunden ist und unsere Wirklichkeit eigentlich nicht betrifft, höchstens als temporäres Amüsement.[3] Aber Shape of Water ist nicht pure Unterhaltung, sondern weist die Zuschauer*innen vielmehr auf die „unruhigen Zeiten“ hin und lässt ihn, trotz des genretypischen „Und wenn sie nicht gestorben sind…“ nicht einfach so zurück, als sei nichts gewesen. Der Film zeigt sich hingegen als ein moderner Mythos und dabei zweifellos mythopoetisch.
Obwohl wir ziemlich schnell feststellen, dass das Setting des Films das Amerika der 1960er Jahre ist, werden wir zu Beginn durch die Worte eines Erzählers auf ganz andere Weise ins Bild gebracht. Denn er beginnt ganz nonchalant, indem er uns wissen lässt, dass er uns nun zwar erzählen könne, wann und wo diese Geschichte stattgefunden habe, dies aber letztlich keine Rolle spiele. Denn obwohl wir das Setting bestimmen können, mit genauen Personennamen (bis zum zweiten Vornamen), Berufsbezeichnungen und militärischen Rängen arbeiten können, geht es hier nicht um irgendwelche bestimmten Menschen, sondern um die Welt, in der die Menschheit lebt. Die Identifikation realer Orte und Personen mit universalen Archetypen (C.G. Jung) ist ein narratives Mittel des Mythos.[4]
Barmherzigkeit gegen (Staats-)Recht
Und auch die Figuren, allen voran die Protagonistin Elisa Esposito (Sally Hawkins) und der Antagonist Richard Strickland (Michael Shannon) spiegeln einen archetypischen Dualismus von Gut und Böse wider, genauer von Barmherzigkeit und Recht.
Die stumme Elisa arbeitet als Putzkraft in einer Forschungsanlage der amerikanischen Regierung. Eines Tages wird sie Zeuge von brutalen Experimenten, die an einem anthropomorphen amphibischen Wesen (gespielt von Doug Jones) zum Zwecke der Rüstungspolitik der sich abschottenden Vereinigten Staaten durchgeführt werden. Gefangen wurde das Wesen von Strickland und die Wissenschaftler unterstehen seiner Führung. Dank ihrer unauffälligen Stellung im Betrieb gelingt es Elisa, sich dem Amphibienmenschen anzunähern, bis zu dem Punkt, wo sich beide ineinander verlieben. Als Strickland die Tötung und Obduktion des Wesens in Auftragt gibt, helfen Elisa, ihre Freunde und ein konspirierender Wissenschaftler dem Amphibienmenschen zu fliehen und bei sich unterzukommen.
Rut gegen Simson
Diesen Dualismus unterfüttert del Toro durch biblische Motive. Seine Mythopoetik besteht darin, zwei alttestamentarische Geschichten gegeneinander zu lesen, nämlich das Buch Rut und die Geschichte von Simson (Ri 13,1-16,31). Rut, das „Frauenbuch des Alten Testaments“[5], wird mit Elisa assoziiert (Nacht für Nacht spielt der Film „The Story of Ruth“ im Kino unter ihrer Wohnung).[6] Simson mit Strickland (über den gesamten Film hinweg kommt er auf Simson zu sprechen und zitiert zuletzt fast wörtlich den Schluss von Ri 16). Die resiliente Elisa/Rut gegen den grobschlächtigen Strickland/Simson. Der Clou am Arrangement: In der biblischen Geschichte wird zwar auch Simson zuletzt (mehr schlecht als recht) verklärt und in die Genealogie der Richter aufgenommen, nicht so aber bei del Toro. Bei ihm ist es Elisa, die die göttliche Gnade genießt. Das starre Recht (sei es das Recht Gottes oder dasjenige des Kalten-Krieg-Nationalismus) wird zugunsten von Barmherzigkeit, Liebe und Treue suspendiert.[7]
Dekonstruktion der westlichen Gesellschaft
Diese Dynamik durchzieht den gesamten Film und wird auf die grundlegenden Elemente des menschlichen Lebens und der Gesellschaft übertragen, deren westliche Variante dabei komplett umgekrempelt wird. Die (post-)moderne westliche Gesellschaft hat den Begriff „Politik“ durch den der „Verwaltung“, den Begriff „Wissenschaft“ durch den der „Technik“, „Kunst“ durch „Kultur“ und „Liebe“ durch „Sexualität“ ersetzt, denn der jeweils neue Begriff leistet eines: er macht qualitative Diskurse quantifizierbar und integriert sie so in die rigide Logik des Kapitalismus.[8] Shape of Water kommentiert all jene Bereiche und dekonstruiert die genannte Entwicklung, indem er das Element des Fremden, des Neues, des Ereignishaften einführt, nämlich den Amphibienmenschen.
Die Szenerie des Kalten Kriegs stellt das Analogon eines rigorosen Nationalismus dar, der sowohl in den USA und im Europa unserer Zeit durch Rechtspopulismus und identitäre Bewegungen propagiert wird. In diesem System wird der Fremde als Mittel zum Zweck benutzt. Strickland will das fremde Wesen für die Waffenproduktion nutzen. (Nicht nur) Populisten nutzen die Fremden für ihre politischen Zwecke, nämlich Abgrenzung und die fehlgeleitete Ideologie ihrer Nation. Aber Politik ist nicht das Abspulen einer einmal festgelegten Systematik, dies wäre nur Verwaltung von absoluten Identitäten. Politik bedeutet hingegen Begegnung und Diskurs, ja, sie bedeutet auch Opposition und Handeln. Dazu aber muss das Fremde denkbar bleiben, der (fremde) Mitmensch muss (im kantischen Sinne) der Zweck sein, und nicht das Mittel. Im Film wird diese Begegnung durch Elisa und den Amphibienmenschen symbolisiert.
Darin integriert ist auch die Frage nach der Wissenschaft. Space Race und Kriegswirtschaft, Fortschritt um jeden Preis auf Kosten von Existenzen und Menschenleben, im Film weichen sie der Ehrung und Liebe zur Schöpfung. So gehört etwa ein russischer Wissenschaftsspion zu Elisas Helfern. Er steht nicht auf der Seite eines der Systeme, sondern steht für das Leben ein.
Eine interessante Entwicklung macht auch Elisas bester Freund und Helfer durch. Die meiste Zeit versucht er sich als Werbezeichner zu verdingen, wird allerdings von seinen Arbeitgebern übervorteilt und schließlich wegrationalisiert. Sobald aber der Fremde durch Elisa auch in sein Leben tritt, findet er in ihm sein neues Sujet. Sein gesamter Stil ändert sich. Der resignierte Grafiker der Werbebranche wird zum inspirierten Künstler.
Am wichtigsten ist natürlich die Dimension der Liebe. Werden wir in der ersten Hälfte des Films nur mit der Form von Liebe, die auf Sexualität reduziert bleibt, konfrontiert (Elisa masturbiert jeden Morgen während eine Eieruhr abläuft; Strickland, der vordergründig die amerikanische Idealfamilie hat, sieht man beim brutalen, mechanischen Sex mit seiner Frau, der nur der Triebabfuhr dient; Elisas bester Freund muss seine Homosexualität unterdrücken und wird andernfalls mit Ablehnung konfrontiert), ändert sich mit dem Auftreten des Fremden alles. Elisa und der Amphibienmensch verlieben sich. Auch sie lieben sich körperlich, aber bei diesem Akt gibt es keine voyeuristisch-pornographische Kamera, die Liebe und Sex nur auf die Darstellung der Geschlechtsorgane reduziert. Stattdessen wird hier wirklich Liebe symbolisiert. Und nicht zuletzt bedeutet diese Liebe, dass etwas Neues eingetreten ist, dass das alte System und seine Logik überwunden wurden.
Gott auf Erden
In der letzten Szene des Films werden Elisa und der Amphibienmensch von Strickland gestellt und hingerichtet. Aber der Amphibienmensch ersteht wieder auf. Auch Strickland kannte die Gerüchte, dass der Fremde in seiner Heimat wie ein Gott verehrt wurde. Und so muss Strickland sein Scheitern eingestehen. „Du bist wirklich ein Gott.“ Für ihn aber endet die Begegnung mit dem Göttlichen, à la Ovid, mit dem Tod.
Das ovidische Thema erscheint dann noch einmal: Der Amphibienmensch heilt die tote Elisa und in einer Unterwasserszene küsst er sie, woraufhin ihr Kiemen wachsen. Diese Metamorphose ist weniger märchenhaft-fantastisch als vielmehr symbolisch. Der göttliche Atem (spiritus) ist die Wiedergeburt des Menschen. In einer Szene haben wir Auferstehung und Pfingsten verwoben. Aber was ist der göttliche Atem/Geist? Er ist die Liebe Gottes zum Geschöpf. Aber was ist der Gott? Er ist ein Geschöpf unter Geschöpfen. Und das Göttliche der Liebe taucht zwischen den Geschöpfen auf, verbindet sie. Durch Liebe sind die Geschöpfe füreinander und miteinander da, nicht nebeneinander und nicht gegeneinander. Es ist nicht so sehr der Fall, dass Gott allein die Liebe ist (1.Joh 4,8). Del Toro zeigt uns eine andere Lesart: Es ist die Liebe zwischen Menschen, die göttlich ist.
[1] Vgl. http://collider.com/why-guillermo-del-toro-is-taking-a-year-off-directing/#fantastic-voyage (Zugriff 13.04.2018)
[2] Vgl. http://www.fr.de/kultur/kino/the-shape-of-water-die-stumme-und-das-biest-a-1448117 (Zugriff 13.04.2018)
[3] Vgl. J. Bolte/ G. Polivka, Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm, 5. Bde., Leipzig 1913-1932, Bd. 4, 4. Siehe außerdem: T. Poser, „Das Märchen“ in: O. Knörrich (Hg.), Formen der Literatur in Einzeldarstellungen, Stuttgart 1981, 251-259.
[4] So findet sich auch direkt in der besprochenen Eingangsszene eine solche Koinzidenz: Wir erleben eine Kamerafahrt durch eine etwas bieder eingerichtete 60er-Jahre Wohnung, die vollkommen unter Wasser gesetzt ist. Der wirkliche Lebensraum des wirklichen Menschen wird identifiziert mit der archetypischen Urflut (Gen 1,2). NB: Statt „Urflut“ liest z.B. die King James Bibel „waters“.
[5] Vgl. E. Zengers Kommentar zum Buch Rut in: Stuttgarter Altes Testament, hg. von E. Zenger, 3. Aufl., Stuttgart 2005, 452.
[6] Etwas mehr ins Detail geht etwa folgender Beitrag: https://forward.com/culture/film-tv/390336/the-shape-of-water-book-of-ruth-guillermo-del-toro/ (Zugriff 13.04.2018)
[7] Eine subtile aber interessante Analogie besteht noch auf einer tieferen Ebene: Simsons Sieg über die Philister stellt im alttestamentlichen Text auch einen Sieg über ihren Gott Dagon dar. Bei diesem handelt es sich um einen Wettergott, der etymologisch mit Wasser (Regen) assoziiert wird (vgl. W.F. Albright, Gilgames and Engidu, Mesopotamian Genii of Fecundity, in: Journal oft he American Oriental Society 40, 1920, 319, Anm. 27). Ferner fand Dagon Eingang in H.P. Lovecrafts so genannten Cthulhu-Mythos, wo er als anthropomorphes Amphibienwesen vorgestellt wird. Del Toro zeigt seit einiger Zeit Interesse an einer Verfilmung von Lovecrafts „At the Mountains of Madness“.
[8] Vgl. A. Badiou, Paulus. Die Begründung des Universalismus [1977], übers. von Heinz Jatho, Zürich-Berlin 2009, 19.
[Zuerst erschienen in Settimana 20, 5/2018.]